Tele-Tandem
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Anne Dussap-Köhler, OFAJ / DFJW, 2002
Das Wertesystem der Grundschule in Deutschland und Frankreich: Gekreuzte Blicke von Lehrern
Inhalt

 
 
In der Schule des anderen unterrichten: eine intensive interkulturelle Erfahrung

Wie geht man auf die Schüler zu? Wie soll man sich den Eltern gegenüber verhalten? Wie kann man seine Unzufriedenheit zeigen, wie bringt man zum Ausdruck, dass man anderer Meinung ist, wie zeigt man Emotionen? Bin ich zu distanziert zu meinen Schülern oder bin ich es nicht genug? Soll man ihnen Hausaufgaben geben? Wie kriegt man sie dazu, dass sie arbeiten? Und so weiter.
Welche Haltung soll man in dem neuen Schulumfeld annehmen? Wie soll man reagieren, wie handeln? Alle diese Fragen, mit denen man nicht rechnet, bringen vieles von dem ins Schwanken, was normalerweise von „alleine geht“ und nicht hinterfragt werden muss. Das betrifft grundlegende Funktionsmechanismen, Werte und sogar den Kern der eigenen Identität. Diese Fragen bringen ein gewisses Unwohlsein mit sich, und das erklärt den kritischen, zweifelnden und manchmal auch negativen Blick auf die Schule im Nachbarland. Diese zuerst schwierige Anpassung an eine neue Umgebung ist die (wahrscheinlich unumgehbare) erste Phase des interkulturellen Lernprozesses.

Wenn man in das Nachbarland geht, bewegt man sich in einer anderen Kultur. Das weiß jeder. Aber was ist Kultur eigentlich? Erst wenn man mit einer anderen Kultur konfrontiert wird, wenn man auf Unterschiede stößt, erst dann wird man sich der eigenen Kultur bewusst, und man erkennt die Kluft zwischen der eigenen und der neuen Kultur. Definieren könnte man die Kultur als die von einer Gruppe von Individuen geteilten Gesamtheit "der Verhaltensnormen, Interaktionsrituale (Gebräuche, Höflichkeitsformeln und Lebensart), Kommunikationsschlüssel (darunter die Sprache), Wert- und Glaubensvorstellungen, die Art, gewisse Situationen zu erfassen, zu agieren oder zu reagieren, zu denken sowie Lebensweisen, praktische, wirtschaftliche oder kreative Fertigkeiten, kollektive Organisationsformen, usw."
35) Diese Kultur wird „mit der Muttermilch aufgenommen“ 36), im Laufe der Erziehung erworben und verinnerlicht. Dank ihr können Individuen innerhalb eines bestimmten Bezugssystems miteinander umgehen. Wenn sich die Bezugspunkte ändern, was der Fall ist, wenn man in ein anderes Land geht und damit auch einen anderen Kulturraum betritt, decken sich die eigenen kulturellen Muster mit der neuen Umgebung nur noch teilweise oder überhaupt nicht mehr. Der Blick, die Gesten, die Reaktionen gehören einem anderen Bezugssystem an. Die kulturelle Kluft tut sich bei jeder Gelegenheit auf, ob es sich nun um die kleinen Dinge des täglichen Lebens ("wie begrüsst man sich" 37) )oder um die Beziehung zu anderen ("l’Allemand paraît un peu brutal ou en tout cas trop direct ; le Français, lui, met les formes, c’est une question d’esthétique. L’impressionnisme français n’étant pas forcément compatible avec l’expressionnisme allemand, les malentendus sont fréquents" 38)) geht. Noch irritierender sind die Verschiebungen, die auf einem Wertekonflikt beruhen. „Quelle surprise lorsqu’on m’a demandé ma religion lors de formalités administratives." 39) Die Lehrerin, die aus dem ausgeprägt laizistischen Frankreich kam, wo die Religion Privatsache ist, und außerdem in dem ebenfalls laizistischen französischen Schulsystem unterrichtet hat, konnte nur schwer verstehen und akzeptieren, dass man sie nach ihrer Religion fragte, wo doch diese Frage in ihrem eigenen Wertesystem fast indiskret und völlig deplatziert war.

Jede soziale Integration in eine neue Umgebung bereitet Schwierigkeiten, solange die kulturellen Bezüge im Dunkeln bleiben. Man muss zuerst „entschlüsseln“, bevor man sich an die neue Umgebung anpassen kann und in ihr angemessen agiert. Die kulturelle „Konditionierung“ ist in der Tat und glücklicherweise nicht vorgegeben, und jeder Einzelne entwickelt sich mit der ihn umgebenden Kultur bzw. Kulturen. Als interkulturelle Erfahrung bezeichnet man jede Auseinandersetzung mit einer anderen Kultur, die einen Positionierungsprozess im Hinblick auf das neue System auslöst und die dazu führt, dass eine Reihe von Werten und Funktionsweisen in Frage gestellt werden. Dieser Prozess durchläuft die folgenden Etappen: zuerst wird die Andersartigkeit konstatiert, dann wird sie entschlüsselt und anschließend durchdrungen. Es folgt die Phase, in der man sich seines eigenen Bezugssystems bewusst wird und es hinterfragt. In der letzten Phase fällt die Entscheidung darüber, ob ein Anpassungsprozess einsetzt oder ob das Andersartige
40) abgelehnt wird. Häufig rücken kulturelle Unterschiede nur dann ins Bewusstsein, wenn Werte und verschiedenartige kulturelle Normen aufeinanderprallen, daher der Begriff „interkultureller Konflikt“. 41)


Die Sprache

Wer ins Nachbarland geht, wird natürlich mit einer anderen Sprache konfrontiert. Und das bedeutet allerhand: man versteht oft etwas nicht, man ist unsicher, man stößt auf Kommunikationsschwierigkeiten und muss mit daraus folgenden Frustrationen umgehen: „Kinder, die mich nicht verstehen, Kollegen, die zu schnell sprechen“. Die Sprache ist ein Integrationsmittel, aber gleichzeitig kann sie auch ausschließen. Aber in mehrfacher Hinsicht ist sie wichtiger Schlüssel zum Verständnis kultureller Codes: einerseits kann man dank ihr verstehen, was gesagt worden ist, und durch sie kann man mit anderen interagieren. Andererseits ist sie integraler Bestandteil der Kultur. Schließlich kann man die Bedeutung, die der Sprache beigemessen wird, als kulturelles Phänomen ansehen („die Franzosen ertragen es kaum, wenn man ihre Sprache nicht beherrscht“).



Die Schule als Schlüsselelement der kulturellen Verankerung

"Schule hat viel mit persönlicher und kultureller, ja nationaler Identität zu tun". Wenn es zutrifft, dass sich die Aneignung kultureller Codes während der Erziehung vollzieht, spielt die Schule ganz offensichtlich eine Schlüsselrolle bei der kulturellen Verankerung des Heranwachsenden. Über die Lehrpläne, die pädagogischen Ansätze und die didaktische Philosophie vermittelt die Schule den Schülern bestimmte Werte und Normen sowie verschiedenartige kulturelle Codes, die sich auf eine ganze Bandbreite von Bereichen beziehen. Das reicht von der Sozialisation bis zur Vermittlung der Geschichte des jeweiligen Landes, vom Aufbau einer Rede zur mathematischen Logik, von der Symbolik des Schriftlichen zur Argumentationstechnik, bis hin zur Entdeckung der Literatur, etc. Die Schule hat zweifellos eine Schlüsselfunktion bei der kulturellen Verankerung der Schüler, und die Lehrer sorgen für die Vermittlung dieser Werte. So werden die Lehrer gleich doppelt in Frage gestellt, wenn sie mit einem anderen System konfrontiert werden, nämlich hinsichtlich ihrer persönlichen kulturellen Identität und hinsichtlich ihrer Funktion als „Kulturvermittler“.


Die Last der Geschichte: „überfallen uns die Deutschen schon wieder“?
42)

Wenn die französische und die deutsche Kultur aufeinandertreffen, tritt die gemeinsame Geschichte in den Vordergrund. Sie ist ein unvermeidbarer Bestandteil der interkulturellen Erfahrung. Die kollektiven Vorstellungen vom Nachbarland, die zumindest in der Anfangszeit fast instinktiv dazu dienen, die kulturelle Andersartigkeit zu entschlüsseln, sind stark von dem überlieferten Feindbild und von den Kriegserfahrungen der eigenen Familie geprägt. Der Deutsche ist der „Eindringling“ (im Ersten und im Zweiten Weltkrieg), der Franzose ist der „Stationierte“ (als Mitglied der französischen Besatzungstruppen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, als Kriegsgefangener, der zwischen 1939 und 1945 auf deutschen Bauernhöfen gearbeitet hat, oder schließlich als Angehöriger der französischen Truppen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in West-Deutschland stationiert waren).
L’entente cordiale franco-allemande est une invention politique utile et agréable qui permet aux peuples de France et d’Allemagne de se tolérer.
43) Die anfänglichen Vorstellungen von der anderen Kultur sind nicht vorteilhaft, um nicht zu sagen negativ. Folglich muss die Akzeptanz des Anderen und der Respekt vor ihm erst hergestellt werden, und zwar durch persönliche Schritte, durch die Begegnung und durch das bewusste und freiwillige Lernen. Dieses Lernen beruht auf der Wahrnehmung der Andersartigkeit, auf der Suche nach Erklärungen für diese Unterschiede, auf der Konfrontation des Andersartigen mit dem eigenen kulturellen Bezugssystem, den Erfahrungen und Bezugspunkten der eigenen Familie und schließlich auf der Aushandlung gemeinsamer Werte, die dazu beitragen, dass der Andere akzeptiert oder abgelehnt wird.

Lange Zeit wurde bei Begegnungen zwischen Deutschen und Franzosen versucht, von Erfahrungen auszugehen, die auf übereinstimmenden Bewertungen beruhten, und allem auszuweichen, was auf zu große Unterschiede verwies. Es hat sich allerdings gezeigt, dass man mit diesem Ansatz der tief verwurzelten Erfahrung von Leid und Unglück in einer negativen gemeinsamen Geschichte nicht Herr werden und schon gar keine positive Beziehung herstellen konnte. Die hier exemplarisch ausgewählten Aussagen der an diesem Austauschprojekt beteiligten Lehrer lassen eine pessimistische Auffassung von dieser interkulturellen Erfahrung, die anscheinend so viele Mühen bereitete, erkennen. Herauslesen kann man aus diesem Blick auf das Andere eher die Ablehnung der Andersartigkeit als den konstruktiven Versuch, gemeinsame Werte herauszubilden. Deutlich treten die Unterschiede in den beiden Schulsystemen zu Tage, und man kann durch diese Aussagen auch zeigen, wie schwierig dieser Prozess sein kann. Die interkulturelle Begegnung führt zu der Vorstellung von einer Konfrontation der Kulturen, bei der Konflikte zu Tage treten, und Werte ausgehandelt werden.



Die interkulturelle Begegnung als neue Herausforderung für die Schule

Wenn die Schule ihre Aufgabe, die Staatsbürger von morgen zu erziehen, vollständig erfüllen möchte, muss sie die aktuellen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen ebenso berücksichtigen wie die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich daraus ergeben. Mit Blick auf die Globalisierung, den Abbau der Grenzen (zumindest in West-Europa) und die Verbreitung der neuen Technologien muss sie ihre Schüler auf die zunehmende Mobilität und die intensivierten Austauschbeziehungen zwischen Ländern und Kulturen vorbereiten. Die Bürger von morgen müssen mit der kulturellen und sprachlichen Vielfalt zurechtkommen. Auch wenn sich alle einig sind, dass die kommenden Generationen unbedingt eine oder zwei Fremdsprachen beherrschen müssen, wird oft vergessen, dass es mindestens genauso wichtig ist, den Schülern ein Gefühl für die Verschiedenheit zu vermitteln und ihnen so früh wie möglich beizubringen, wie man ein andersartiges kulturelles Umfeld durchdringt, und wie man darin agiert. Der kritische und abschätzige Blick der französischen und deutschen Lehrer auf das Schulsystem der Nachbarn lässt erkennen, zu welchem Maß an Verunsicherung die Erkenntnis führen kann, dass im fremden Umfeld andere Werte gelten. Und diese Verunsicherung führt bisweilen dazu, dass das Andersartige negiert oder abgelehnt wird. Sicherlich muss die Schule die Konfrontation zwischen Kulturen und Wertesystemen als Herausforderung annehmen, um die Staatsbürger von morgen besser auf den Austausch zwischen unterschiedlichen Wertesystemen vorzubereiten.

Dabei geht es nicht darum, ein neues Unterrichtsfach in den Lehrplan aufzunehmen, sondern eher um die Entwicklung einer neuartigen sozialen Kompetenz, nämlich der interkulturellen Kompetenz, die nur in der Begegnung mit einer anderen Kultur erworben werden kann. Diese Begegnung muss von einer Pädagogik flankiert werden, die den Schüler dazu anleitet, sich des eigenen und des anderen kulturellen Bezugsrahmens bewusst zu werden und die Verschiedenheit zu akzeptieren. Mit anderen Worten geht es um eine Pädagogik des interkulturellen Lernens.

Es ist offensichtlich, dass der Sprachunterricht dabei eine entscheidende Rolle spielen wird. Dem Schüler muss es ermöglicht werden, mit anderen Kulturen in direkten Kontakt zu treten. Jede Begegnung mit der Sprache, den Menschen und der Kultur des Nachbarlandes ist eine besondere Gelegenheit, um diese Kompetenz zu entwickeln. Solche Gelegenheiten sind z.B. ein Schüleraustausch, Begegnungen mit anderen Schülergruppen, Brieffreundschaften, oder die Verwendung der neuen Technologien, um einen regelmäßigen Kontakt einzurichten.

Von diesem Blickwinkel aus erfüllt das Projekt Tele-Tandem die doppelte Forderung nach Fremdsprachenerwerb und interkulturellem Lernen. Über den reinen Fremdsprachenerwerb hinaus ist der Lernende in direktem Kontakt mit dem wirklichen Leben im anderen Land. So stellt er eine Verbindung zu dem Land her, dessen Sprache er lernt, und übt die Kommunikation in der Zielsprache und mit der Zielkultur. Dies trägt wesentlich dazu bei, dass die Schüler zum Umgang mit der Verschiedenartigkeit erzogen werden.

E N D E

 
 

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