Tele-Tandem
Évaluation / Auswertung 2002-2004

Tele-Tandem
Auswertung des DFJW-Projekts
2002 – 2004
Inhaltsverzeichnis


 
 
II. Erste Erkenntnisse und didaktische Weiterentwicklung

4. Soziale Lerninhalte, interkulturelle Lerninhalte

Interkulturelle Lerninhalte

Die wichtigste Besonderheit von Tele-Tandem besteht darin, dass der Lernende mit der Kultur des anderen konfrontiert wird und sich so sprachliche Lerninhalte in dessen kulturellem Kontext aneignen kann. Das interkulturelle Lernen findet in einem dynamischen Verhältnis und in der Interaktion zwischen zwei Personen mit unterschiedlicher Kultur statt. Die Erfahrungen zeigen, dass interkulturelle Lerninhalte vorgegeben werden können durch:

- das Thema „Wir entdecken die Umgebung unseres Partners“: seine Schule, sein Leben als Kind / als Jugendlicher (Tagesablauf, Unterricht, Stundenplan, Fächer, Spiele in der Schule etc.), den Lebensrhythmus, außerschulische Aktivitäten, Zeitpunkt des Aufstehens, des Zubett-Gehens, die Mahlzeiten und das Essen (was für die Kinder ein wichtiger Punkt ist), das Aussehen der Stadt/ der Schule, die Mode, das Leben in der Familie (wenn man beim Austauschpartner untergebracht ist), aber auch das Verhältnis zum Partner, das Verhältnis Gast – Gastgeber, das Verhältnis zum (erwachsenen) Lehrer, zu (erwachsenen) Eltern, das Verhältnis zu Autorität, die Rolle der neuen Technologien in der Schule, beim Lernen, in der Familie etc.

Es geht hier nicht darum, landeskundliche Fakten zu entdecken, wie sie in einem traditionellen Sprachunterricht thematisiert werden könnten. Vielmehr ist dieses Entdecken verknüpft mit einem Partner (einem Freund) und findet in einem dynamischen (und affektiven) Verhältnis zum anderen statt. Da ja auch der Kontakt zur Partnergruppe besteht, kann sowohl ein individueller als auch ein pluraler Zugang zur Kultur geschaffen werden. Einige kulturelle Elemente besitzen alle Gruppenmitglieder, andere sind nur für Einzelne spezifisch.

- den anderen entdecken, sich selbst entdecken, die kulturelle Dimension entdecken: durch den Vergleich mit der direkt erlebten Kultur des Partners entdeckt der Schüler, dass auch er selbst in einem kulturell gekennzeichneten Umfeld lebt, das nicht unbedingt identisch mit dem seines Partners ist; die Konfrontation mit der Kultur des anderen zeigt ihm wie in einem Spiegel seine eigene Kultur. So wird er sich seines eigenen Lebensumfeldes bewusst und kann es beschreiben. Was vorher eine unbewusste Selbstverständlichkeit war, wird zur Wahrnehmung einer relativen Wirklichkeit. Wird die Konfrontation mit dem Anderen durch einen interkulturellen Lernprozess begleitet und unterstützt, wird die Begegnung einen positiven Effekt haben. Dann kann der Schüler entscheiden ob er sich bestimmte Elemente der anderen Kultur aneignen möchte. Er kann seine Identität konstruieren und sich emanzipieren (z.B. schreibt eine Schülerin in einem Kommentar über eine Tandem-Übung zum Thema Mode / Kleidung: „Bei uns trägt man eher helle Farben, besonders im Sommer. Das gefällt mir besser, das ist hübscher“). Die Lehrer unterstreichen wiederholt, wie gut sich das Projekt, durch das man sich selbst und seine Möglichkeiten entdecken lernt, dafür eignet, unsicheren Schülern Selbstvertrauen zu geben.

Doch beim kontrastiven Entdecken der deutschen und der französischen Kultur allein bleibt es nicht. Durch das gemeinsame Projekt müssen sich die Partnerschüler auf ihre unterschiedlichen Vorstellungen, Sichtweisen, Denkweisen und Problemlösungsstrategien einlassen. Diese Gegenüberstellung erfordert Interaktion und ein gemeinsames Aushandeln, in dessen Kern die interkulturelle Kompetenz liegt. Im Einzelnen bedeutet das für die am Programm beteiligten Schüler:

- mit einem „Gleichgesinnten“ eine Beziehung aufbauen, die es zulässt, anders zu sein

- das Unbekannte, das Anderssein akzeptieren, es zulassen, den anderen vielleicht nicht zu verstehen; sich bewußt machen, dass der Partner nicht nur eine andere Sprache spricht, sondern nach anderen sozialen, psychologischen, kognitiven Mustern handelt, die schwer zu erfassen und zu verstehen sind.

- zu verstehen versuchen

- Riten und Rhythmen der anderen Kultur erfassen und sich anpassen, sein Verhalten beim Konktakt mit dem Anderen verändern

- das Anderssein des anderen respektieren und ihn so akzeptieren

- die Kultur und das Verhalten des anderen hinterfragen – auch die eigene Kultur hinterfragen und sich seiner eigenen Verhaltensweisen bewusst werden

- sich der Notwendigkeit bewusst werden, den Partner beim Entdecken der eigenen Kultur zu begleiten, ihm zu helfen, sich in Zeit, Raum und Kultur zurechtzufinden (Rolle eines kulturellen Mediators).

Selbstverständlich hängen die Wahrnehmung und die Repräsentation der interkulturellen Begegnung mit der Sprachkompetenz, dem Alter und der Reife der Schüler zusammen. Ohne voreilig aufgrund einiger Beispiele zu verallgemeinern, kann man jedoch feststellen, dass die Grundschüler außerordentlich gut in die Rolle des kulturellen Mediators schlüpfen und – oft unbewusst – den Partner an ihre Kultur heranführen. Sie scheinen das Anderssein zu akzeptieren und sich der fremden Kultur anzupassen, die sie als Alternative auffassen und nicht als feindliche Umgebung. Die Schüler der Sekundarstufe nehmen kulturelle Unterschiede sensibler wahr, was bis zum Konflikt führen kann. In jedem Fall muss noch einmal unterstrichen werden, wie wichtig es ist, den interkulturellen Lernprozess, der dem Alter der Kinder, ihrer Selbstwahrnehmung und dem Stadium ihrer Identitätsfindung angemessen sein muss, zu begleiten.

Das auszuwertende Material bietet speziell zum interkulturellen Lernen wenig Informationen. Die oben genannten Bemerkungen basieren hauptsächlich auf der Durchsicht der Videoaufnahmen und der Einträge der Kinder in ihre Tele-Tandem-Hefte. Auch wenn die Lehrer anscheinend keine Schwierigkeiten haben, kulturelle Unterschiede zu thematisieren (die kontrastive Entdeckung der beiden Kulturen), so tun sie sich mit der interkulturellen Dimension, d.h. mit der Interaktion zwischen den Kulturen, doch schwerer. Sie sind bestenfalls in der Lage interkulturelle Konfliktsituationen, die einer Mediation bedurft hätten, zu entdecken, verfügen aber nicht über die notwendigen pädagogischen und didaktischen Instrumente, um eine interkulturelle Betreuung der Schüler zu planen oder zu organisieren.

 
 

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